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Die richtige Brille

  • Autorenbild: Sabine Fischer
    Sabine Fischer
  • 14. März
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen


"Das Leben ist bezaubernd, man muss es nur durch die richtige Brille sehen."

Alexandre Dumas der Ältere

 

 

Meine Kollegin hat mir eine Brille aus unserem Warensortiment empfohlen. Es ist ein sehr extravagantes Gestell und meine erste Reaktion ist Abwehr. Ich würde es niemals wagen, so eine auffällige Brille zu tragen. Doch meine Kollegin lässt nicht locker. Sie mag mich sehr und ist bekannt für ihren treffsicheren Geschmack. Nach einigem Zögern willige ich ein.


Mir ist ganz unwohl. In mir sträubt sich alles dagegen, dieses auffällige Gestell aufzusetzen. Ich habe Angst davor, so gesehen zu werden und würde mich viel lieber irgendwo verkriechen. Ich wage einen Blick in den Spiegel und bin völlig überrascht. Die Brille fügt sich perfekt in mein Gesicht ein, sie scheint wie für mich gemacht.


Doch das ist noch nicht alles ... Mit dem Blick durch diese Brille wird auf einmal eine Seite von mir sichtbar, die ich selbst bisher nur erahnt, derer ich mich aber niemals als würdig erachtet hatte. In meinem Spiegelbild sehe ich eine schöne, kluge, dynamische, liebenswerte Frau.


Meine Kollegin ist begeistert, diese Brille und ich gehören zusammen. Doch im selben Moment verlässt mich der Mut und ich gebe sie ihr zurück. Sie spricht mir zu, mir offen zu lassen, es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu probieren.


Verstohlen werfe ich einen Blick auf das Preisschild und mir stockt der Atem - 666 Euro! Ausgeschlossen, das liegt jenseits meiner Möglichkeiten. Aber ich spüre eine Verbindung zu dieser Brille und lege sie zunächst nur auf die Seite.


Meine Chefin hat den Vorgang beobachtet und meint nun, ich solle diese Brille doch vergessen. Wozu überflüssigerweise so viel Geld ausgeben? Meine alte wäre doch völlig in Ordnung und würde wunderbar zu mir passen.


Dieser Meinung bin ich überhaupt nicht, denn sie ist schon ganz ausgeleiert und abgenutzt und die Gläser sind zerkratzt. Sicher meint es meine Chefin nur gut und will mich davor bewahren, mich ins Unglück zu stürzen.


Meine Chefin will mich schützen. Alles Neue und Unbekannte macht ihr Angst und so bleibt sie lieber in ihren sicheren Gefielden und will mich genau da auch halten. Doch wie lebt es sich in einer solchen Sicherheitszone?


Alles ist irgendwie immer gleich. Es wiederholt sich ständig und lässt Entwicklung und Veränderung nicht zu. Hier war es so tristgrau wie die Kleidung meiner Chefin und so matschbraun wie meine derzeitige Brille, die ich nun schon seit Jahren trug. War es nicht endlich an der Zeit, dieses Karussell des ewig Gleichen zu verlassen?


Auf einmal kann ich den Ruf des Lebens hören – Lebendigkeit, Freude, Licht, Bewegung und Farbenpracht, genauso wie diese andere neue Brille. Nein, ich will nicht länger bewegungslos in diesem grauen Sumpf der Angst vor Veränderung verharren. Ich hatte den Ruf des Lebens vernommen und in diesem Moment weiß ich, dass ich ihm folgen und mich für diese neue Brille entscheiden würde.


Noch kann ich sie mir nicht leisten, doch ich weiß ganz genau, dass ich es eines Tages können würde, wenn ich mich innerlich ganz und gar für diese Brille entschieden hatte …

 

 

♦ ♦ ♦

 

 

Zum Zeitpunkt dieses Traums habe ich in meinem ursprünglichen Beruf als Buchhändlerin gearbeitet. Ich hatte damals eine blutjunge, ganz bezaubernde Kollegin. Sie war blond, hübsch und voller Liebreiz. Sie ist offen auf die Menschen zugegangen, hatte für jeden immer ein gutes Wort, hat für jeden Kunden immer das richtige Buch gefunden und war bei Kollegen und Kunden gleichermaßen beliebt.


Ich erinnere mich noch gut, wie sie während des Weihnachtsgeschäfts an einem Adventssamstag als Engel verkleidet zur Arbeit kam und mein spontaner Gedanke war: „Ein blonder Engel!“ Da war mir klar, dass sie im Traum die Stimme meiner Seele repräsentiert.


Ganz anders meine Chefin. Sie war misstrauisch, argwöhnisch und ein Kontrollfreak. Ihre größte Angst war, dass irgendetwas schief oder nicht nach Plan laufen könnte und hat deshalb alles lieber selbst gemacht, bevor sie auch nur die einfachste Aufgabe delegiert hätte. Ihre kontrollierenden Blicke haben mich damals gefühlt bis in die letzte Ecke des Ladens verfolgt. Es ist nicht schwer, sie als die Stimme meines Egos wiederzuerkennen.


Beide, unsere Seele und unser Ego sprechen unablässig zu uns. Nur ist die Stimme der Seele wie ein leises Flüstern und die Stimme des Egos ein lautes Gebrüll. Meine Seele weiß, was ich brauche, damit ich glücklich bin. Sie kennt die Antwort auf alle Fragen und sie kennt den Weg. Sie weiß, dass wenn ich das wahre Glück finden möchte, ich zunächst meine Sichtweise ändern muss, um mich selbst und das Leben neu und anders wahrnehmen zu können.


Betrachte ich mich durch die Brille des Egos, sehe ich mich als klein, schuldig, schlecht, unwürdig, nicht gut genug, ohnmächtig, etc. Die Brille des Egos ist der Blick aus der Angst. Das Ego fühlt sich ständig bedroht, will stets die Kontrolle behalten, immer Recht haben und betrachtet alles und jeden mit Ablehnung.


Betrachte ich mich durch die Brille der Seele, so nehme ich mich als selbstbewusst, schön, strahlend, liebenswert, gut und wertvoll wahr. Die Brille der Seele ist der Blick aus der Liebe. Die Seele ist voller Wertschätzung, Freundlichkeit und Annahme. Sie wertet und beurteilt nicht, sie unterstützt, hält, trägt und ermutigt.


Das Brillengestell ist extravagant, etwas Besonderes. Hier kommt mir der Gedanke, dass jeder Mensch auf seine Art etwas ganz Besonderes ist. Jeder ist mit ihm ganz eigenen Talenten und Fähigkeiten in dieses Leben gekommen, um sie hier zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht sind wir, was einzelne Fähigkeiten betrifft, keine Meister, aber im Zusammenspiel der uns gegebenen Talente sind wir einmalig.


Es geht jetzt darum, mich selbst durch diese Brille zu sehen und mich in meiner Einmaligkeit zu erkennen. Es geht nicht darum, dass diese Besonderheit mich von anderen abhebt und mich besser macht als sie, mich mit anderen zu verlgeichen. Es geht darum, die mir gegebenen Fähigkeiten und Talente zum Wohle aller einzusetzen.


Die Brille kostet 666 Euro. Jedes kleinste Detail im Traum hat eine Deutung und da sich mir die Bedeutung in diesem Zusammenhang nicht sofort erschlossen hat, habe ich die Zahl gegoogelt.


Das wilde Tier aus der Bibel hat mir einerseits nicht sonderlich behagt und ich konnte es andererseits nicht schlüssig einordnen, aber bei den Engelszahlen habe ich folgende Definition gefunden: „Die Bedeutung der dreimal 6 ist weder teuflisch noch negativ, es bedeutet einfach, dass du alle Ängste und Unsicherheiten beseitigen musst, die du hast, damit du die richtige Art von Energie anziehen kannst.“

 

Jetzt haben wir das Jahr 2024, acht Jahre später und neulich ist mir dieser Traum wieder in die Hände gefallen. Natürlich habe ich mich in diesen Jahren weiterentwickelt und mehr und mehr erkenne ich auch meine mir gegebenen Talente und betrachte mich ihrer als würdig.


Eine meiner Gaben ist es, mich an meine außergewöhnlich weisen, lehrreichen und vielschichtigen Träume zu erinnern, sie aufzuschreiben und während des Schreibens mir immer deutlicher der Stimme meiner inneren Führung gewahr zu werden, die mich durch Gedanken und weitere Bilder zur Deutung meiner Träume führt.


Noch einmal beschäftige ich mich mit der Zahl 666 und beim wilden Tier muss ich sofort an mein Ego denken. Es kommen aber noch weitere Bilder: ich sehe eine Schwelle, ein Scharnier und denke die Worte „Dreh- und Angelpunkt“. Es gilt also eine Schwelle zu überschreiten und etwas zu drehen.


Wenn ich die Zahl 666 drehe, bekomme ich die 999. Die Zahl steht auf dem Kopf, meine Welt steht auf dem Kopf, alles verkehrt sich ins Gegenteil. Alles, was hässlich war, wird schön. Alles, was begehrenswert war, wird bedeutungslos. Alles, was wahr war, wird unwahr.


Mein Leben lang schon bin ich auf der Suche nach der Wahrheit und das ist der Preis, den ich bezahlen muss, um ihrer gewahr zu werden: alles wieder zu verlernen, was ich bisher gelernt habe. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Zu akzeptieren, dass nichts von dem, an was ich bisher geglaubt habe, wahr ist. Der Preis ist, alle meine Vorstellungen aufzugeben, alle meine Urteile und Meinungen – mein Ego.


Mein ganzes Weltbild wird komplett auf den Kopf gestellt. Mit dieser Brille sehe ich eine Wirklichkeit, die das genaue Gegenteil dessen ist, was ich bisher als die Wahrheit betrachtet habe. Ich schaue in den Spiegel und bin schön.


Trotz dieser bereits für mich sehr zufriedenstellenden Deutung, google ich auch noch noch die 999. Es geht um Vollendung und Neuanfang, das Alte loslassen und dem Neuen Raum geben, um Wandel und Transformation … Und es passt so gut, nicht umsonst ist mir dieser Traum zum jetzigen Zeitpunkt noch einmal unter die Augen gekommen.


Vor drei Monaten ist mein geliebter Hund gestorben. Er war 16 Jahre lang an meiner Seite und ich habe ihn bis zum Schluss in seinem Sterbeprozess begleitet. Zur gleichen Zeit wurde mir wegen Eigenbedarfs meine Wohnung gekündigt und meine Schwester, meine engste Vertraute und Freundin, ist 500 km weit weggezogen. Danach hat sich in mir etwas verändert.


Ich habe gerade kein Interesse mehr, im Außen noch irgendetwas erreichen zu wollen. Mein einziger Wunsch ist jetzt noch, meine innere Stimme immer besser wahrzunehmen und mich ganz meiner inneren Führung hinzugeben. Ich laufe nichts mehr hinterher, ich will nicht mehr woanders sein als da, wo ich gerade bin.


Ich habe angefangen zu stricken, um die Hände zu beschäftigen und ich schreibe täglich, denn das Schreiben ist der Kanal zu meiner inneren Stimme. Und auch hier verändert sich etwas – ich kann mehr und mehr die Präsenz dieser wunderbaren, liebevollen, unterstützenden, annehmenden, haltenden Energie wahrnehmen, die seit Anbeginn nur darauf wartet, dass ich mir ihrer wieder gewahr werde …

 
 
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