Farben des Lebens
- Sabine Fischer
- 23. Mai
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Mai
"Was für die Raupe das Ende der Welt,
ist für den Rest der Welt ein Schmetterling."
Laotse
Ich bin in einer Herberge abgestiegen. Fast alle Gäste der Unterkunft haben sich im Aufenthaltsraum versammelt und es herrscht eine fröhliche und ausgelassene Stimmung. Überall wird sich lebhaft unterhalten, gelacht und an Gesellschaftsspielen erfreut. Obwohl ich Teil ihrer Gemeischaft und in der selben Situation bin wie sie, fühlte ich mich trotzdem nicht zugehörig.
Ich sitze gemeinsam mit einem Mann und einer weiteren Frau an einem Tisch. Unsicherheit beschleicht mich, denn ich weiß nicht, wie ich mich verhalten und was ich reden soll. Die beiden tauschen sich angeregt aus und richten das Wort auch immer wieder an mich, aber ich bin unfähig, darauf zu reagieren.
Auf der einen Seite verlangt es die Höflichkeit, mich am Gespräch zu beteiligen, auf der anderen Seite verspüre ich aber überhaupt keine Lust dazu. Nur mit halbem Ohr bekomme ich mit, worüber sie sprechen. Nach belanglosem Smalltalk steht mir nicht der Sinn, weshalb es mir schwer fällt, aufmerksam zu bleiben.
Ich beobachte die Frau und nehme sie als liebenswert, freundlich, nett, unkompliziert und aufgeschlossen wahr, gleichzeitig aber auch als unbedarft. Sie wirkt nicht so, als würde sie sich viele Gedanken machen und die Dinge hinterfragen. Ich stelle fest, dass es ihr keinerlei Probleme bereitet, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.
Traurigkeit steigt in mir auf. Ich wünschte, ich könnte mich auch so spontan und unbekümmert geben. Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, bemerke ich überhaupt nicht, wie meine Tischnachbarn aufstehen und sich anderen Gesprächspartnern zuwenden. Auf einmal sitze ich alleine da. Ich fühle mich einsam, übrig und zurückgelassen.
Zwei Tische weiter wird es auf einmal lebhaft. Ich entdecke den Mann wieder, der sich mit zwei jungen Mädchen unterhält. Die beiden sind gerade bei einem Würfelspiel und scheinen sich prächtig zu amüsieren. Dem Mann fällt auf, dass sie nicht dieselbe Sprache sprechen und will helfend eingreifen.
Er ist der Meinung, dass sie alleine nicht zurechtkommen. Doch zu seiner großen Überraschung wird er eines Besseren belehrt, denn die zwei jungen Frauen haben ihren eigenen Weg gefunden, um miteinander zu kommunizieren. Sie brauchen den Mann nicht.
Ich denke an meine Kinder und die Menschen in meinem Leben. Es geht mir wie ihm, auch ich werde auch nicht mehr gebraucht. Ich spüre eine Sehnsucht in mir aufkommen. Es ist der Wunsch nach Gemeinschaft, Freude und Leichtigkeit. Wie gerne würde ich jetzt auch mit den anderen würfeln und dabei entspannt plaudern und unbeschwert lachen.
Ich beschließe, nicht länger hier zu bleiben und stattdessen auf mein Zimmer zu gehen. Ich halte das Gefühl, nicht dazuzugehören, einfach nicht mehr aus. Dann bin ich lieber gleich ganz alleine.
Ich will gerade die Treppe hinaufsteigen, als von oben eine Gruppe Inder herunterkommt. Ich halte inne. Bunte Farbenpracht und pralle Lebensfreude schlagen mir entgegen. Sie sind aufgedreht und fröhlich, reden und lachen durcheinander, gehen Arm in Arm und verstehen sich aufs Beste.
Ich bekomme mit, dass sie eine lange und beschwerliche Reise hinter sich haben. Eine Reise mit vielen unerwarteten Hindernissen, die sie manchmal schon das Gefühl haben ließen, nie mehr anzukommen. Entgegen ihren schlimmsten Befürchtungen haben sie ihr Ziel schließlich doch erreicht und nun machen sich unendliche Erleichterung, Freude und Dankbarkeit in ihnen breit.
Voller Übermut werfen sie irgendetwas Glitzerndes in die Luft, um auch Außenstehende an ihrem Glück teilhaben zu lassen. Da fällt etwas davon direkt vor mir auf die Treppenstufe. Ich bücke mich, um es genauer zu betrachten und erkenne, dass es sich um einen geschliffenen Bergkristall handelt. Es fühlt sich an, als wäre das nicht zufällig so geschehen, sondern als wäre er für mich bestimmt.
Ich hebe den Stein auf und in dem Moment, in dem ich ihn in der Hand halte spüre ich, dass eine Veräderung in mir vorgeht. Etwas in mir öffnet sich. Ich fühle Zuversicht und Hoffnung wie schon lange nicht mehr und auf einmal habe ich die sichere Gewissheit, dass alles gut werden wird und richtig ist so wie es jetzt ist.
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Dieser Traum aus dem Jahre 2015 kam zu mir, als ich mich selbst in einer Depression befand. Ich hatte schon mehrere solcher Phasen in meinem Leben und weiß wie es sich anfühlt, wenn da keine Hoffnung mehr ist, kein Antrieb, noch etwas zu tun. Müdigkeit, Ausgebranntheit, das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Alles erscheint so sinnlos. Ständiges Grübeln, Sorge um die Zukunft, das Gefühl von Endstation und dass es nie wieder anders werden wird, bis hin zu dem Wunsch, nicht mehr leben zu wollen.
Die wichtigste Botschaft dieses Traumes war für mich, dass, egal wie düster und hoffnungslos es im Moment auch in mir aussehen mag, es vorbeigehen wird und Hoffnung, Freude, Leichtigkeit und Zuversicht zurückkommen werden.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste war, dass dieser Traum eine Voraussagung war und Indien drei Jahre später tatsächlich in mein Leben kommen sollte. Es kam zu mir im April 2018 in Gestalt des Atma Gnani Puyjashree Deepakbhai und mit ihm das innere Glück.
Die vielen Facetten des Ich
Unser Ich hat viele Gesichter und je nach Situation zeigen wir mal das eine und dann wieder das andere. Genauso ist es mit unseren inneren Anteilen, es gibt viele davon. Mal tritt der eine stärker hervor, dann wieder der andere. Manche von ihnen versuchen wir auch unbewusst im Verborgenen zu halten, weil wir sie an uns nicht haben wollen. In diesem Traum bin ich gleich auf mehrere meiner Anteile getroffen.
Wir begegnen in unseren Träumen immer uns selbst. Die Personen, Situationen und Gegenstände, die sich im Traum zeigen, stehen meist symbolisch für etwas, das wir in uns tragen, wenn auch oftmals unbewusst.
Dementsprechend bin ich also nicht nur die Einsame, ich bin genauso auch die Frau, die spontan und unbekümmert ist, ich bin der Mann, der ein Problem sieht und es lösen möchte und ich bin die Inder, die ausgelassen sind vor Lebensfreude und andere daran teilhaben lassen wollen.
Der Traum als Spiegel
In diesem Traum wird mir gezeigt, wie ich diesen Anteilen gegenüberstehe. Die Frau und den Mann lehne ich beide ab. Die Frau ist mir zu oberflächlich und der Mann zu langweilig. Doch wenn ich ganz werden möchte, muss ich diese Anteile erkennen, annehmen und integrieren.
Im Grunde sagt mir mein Traum, dass ich nicht immer alles hinterfragen und den Dingen auf den allerletzten Grund gehen muss. Ich darf auch einfach nur mal spontan sein und das Dasein genießen. Es ist völlig in Ordnung, auch mal das harmlose und unbekümmerte Lieschen Müller in mir auszuleben.
Der Mann zeigt mir, dass ich möglicherweise Probleme schaffe, wo gar keine sind. Ich muss mir nicht ständig über alles Gedanken machen, nicht immer Bescheid wissen und nicht immer die Welt retten wollen, ich kann auch einfach mal nur Spaß haben und mich freuen.
Wie immer ist auch dieser Traum wieder sehr vielschichtig und wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, jedesmal die ganze Bandbreite des Bedeutungsinhalts eines Traums zu erfassen. Aber eine weitere wichtige Botschaft hat sich mir doch noch erschlossen.
Lebensreise
Ich steige in einer Herberge ab, was bedeutet, dass ich mich auf einer Reise befinde - meiner Lebensreise. Ich bin an einem Tiefpunkt in meinem Leben angekommen und genau jetzt treffe ich auf die Inder. Die Reise, die die Inder hinter sich haben, spiegelt das Gefühl meiner Lebensreise wider. Die Hindernisse scheinen so groß zu sein, dass ich die Hoffnung verloren habe, jemals noch irgendwo anzukommen.
Indien symbolisiert für mich das pralle Leben, Farbenpracht, Lebendigkeit und die gelebte Spiritualität ist eine Selbstverständlichkeit. Dieser Traum hat mir damals die Hoffnung, die Zuversicht und den Glauben ans Leben wiedergegeben. Als Symbol bekomme ich einen Bergkristall quasi vor die Füße geworfen.
Der Bergkristall ist ein uralter Heilstein, der Vertrauen vermittelt. Er ist ein Symbol für Vollkommenheit, Liebe und Klarheit. Er fördert Selbsterkenntnis und Vertrauen. Er schafft Klarheit und trägt zur Erweiterung des Bewusstseins bei. Es ist als wollte mir dieser Stein sagen: "Du trägst die Klarheit in dir. Mache sie dir bewusst."
Das Leben ist im ständigen Fluss, und welcher Fluss fließt immer nur geradeaus? Dann wäre er ein Kanal und der ist nicht natürlich. Wir erleben Hochs und Tiefs, helle Zeiten und dunkle Zeiten und nach jeder Nacht kommt ein neuer Tag, geht die Sonne wieder auf. Die Natur macht es uns vor, von ihr können wir so viel lernen.
Die dunkle Jahreszeit ist der Winter. Das ist die Phase der Ruhe und Regenerierung. Es ist als ob die Natur diese Zeit nutzt, um neue Kräfte zu sammeln, die sie sich im nächsten Frühjahr neu erschaffen und wieder zur prachtvollen Blüte bringen lassen. Auch wir Menschen durchleben solche Phasen.
In Zeiten des Rückzugs fühlen wir uns vielleicht manchmal falsch, weil wir befürchten, nicht mehr normal zu sein oder gar den Anschluss ans Leben zu verlieren. Doch so ist es nicht. Auch diese Phasen gehören dazu, sind eine Facette des Lebens, die ihren Sinn haben und unsere Aufmerksamkeit brauchen.
Ja, eine Depression ist eine schwere Krise, aber Krise ist gleichzeitig auch die Chance zur Veränderung. Wir verändern uns nur in der Krise, niemals in der Komfortzone. Umso größer die Krise, desto größer die Veränderung. Es geht darum, auch diese Aspekte unseres Lebens anzunehmen. Wenn wir uns dagegen sträuben, erleben wir diese Zeiten ebenso beschwerlich wie die Inder ihre Reise.
Eine Depression ist nicht das Ende. Es ist alles richtig und gut genauso wie es ist. Hoffnung, Zuversicht, Leichtigkeit und Freude werden ins Leben zurückkommen. Das soll mir bewusst werden - durch den Bergkristall.
Zum Abschluss ein wunderbar passendes Zitat von Robert Betz:
Vom Segen dunkler Zeiten
So wie der Schmetterling zuvor lange im engen, dunklen Kokon saß, so brauchen auch wir die Zeiten der Dunkelheit, um neu geboren zu werden und unsere Flügel auszubreiten. So wie die Blumenzwiebel sich lange im Dunkeln aus dem Inneren nährt und wächst, bevor sie ihre Blätter der Sonne entgegenstreckt, so müssen auch wir uns in Liebe und Demut nach innen wenden, bevor wir unsere Flügel in Freude ausbreiten und rufen:
"Das hier bin ich! Ich liebe das Leben und das Leben liebt mich!"