
Haben oder Sein
- Sabine Fischer
- 25. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Okt.
"Wer bin ich,
wenn ich bin, was ich habe,
und dann verliere, was ich habe?"
Erich Fromm
In meiner Jugend hatte ich eine sehr gute Freundin. Sie war eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Sie hatte ein ganz natürliches Wesen, war offen und ehrlich, absolut vertrauenswürdig und hatte ein sicheres Gespür für Menschen und Situationen. Über die Jahre hatten wir uns aus den Augen verloren.
Ich bin überrascht und erfreut, als sie nach langer Zeit den Kontakt zu mir wieder aufnimmt. Inzwischen hat sie geheiratet und ist Mutter geworden. Sie sind gerade am Bauen und sie lädt mich ein, sie doch einmal in ihrem neuen Zuhause zu besuchen. Gerne folge ich der Einladung gleich am nächsten Tag.
Als ich dort ankomme, sehe ich den Rohbau eines Hauses. Wobei "Haus" weit untertrieben ist, denn es handelt sich hierbei eher um eine Villa, ein Anwesen oder eine Residenz. Umso näher wir dem Gebäude kommen, desto größer und mächtiger wird alles. Der Haupteingang entpuppt sich als ein Portal mit zwei gigantischen Flügeltüren von geschätzten drei Metern Höhe.
Als wir eintreten, fühle ich mich wie im falschen Film. Wir stehen in einer riesigen Halle, deren Ausstattung an Prunk und Pracht nicht mehr zu überbieten ist. Alles ist aus Marmor und an der Decke hängt ein wuchtiger Kronleuchter. Für meinen Geschmack grenzt es schon an Kitsch.
Ich bin völlig fassungslos. Was ist aus meiner Freundin geworden? Ich betrachtete sie genauer. Bekleidet mit einem Designeranzug und Pumps zeigt sie mir mit weit ausladenden Gesten und voller Stolz, was sie bisher geschaffen haben. Ihr Auftreten befremdet mich.
Gegenüber des Eingangs befindet sich noch ein kleineres Haus und ich frage sie, ob das das Gästehaus wäre. "Ja, natürlich!" antwortet sie mit einem leicht herablassenden Lächeln. Da steigt in mir die Erinnerung hoch, dass ich mir all das selbst einmal erträumt hatte. Ich war schon auf dem Weg dorhin gewesen, doch dann ist alles anders gekommen.
Mir verschlägt es beinahe die Sprache angesichts dessen, was sich meinen Augen hier bietet - vergoldete Wasserhähne, kunstvoll verzierte Kristallspiegel, teuerste Perserteppiche auf hochwertigstem Holzboden. Doch wirkt das ganze Ambiente völlig steril. Ich komme mir vor wie in einem Museum, wage kaum noch zu atmen, geschweige denn etwas zu berühren.
Die Freundin aus früheren Zeiten ist in dieser Frau nicht wiederzuerkennen. Sie ist nur noch eine Hülle, eine Attrappe, der als einziger Daseinszweck geblieben ist, zu repräsentieren und Eindruck zu machen. Aus einer natürlichen, authentischen, selbstbewussten, ehrlichen und liebenswerten jungen Frau war eine Anziehpuppe geworden.
Ich spüre einen Druck in mir. Ich muss etwas sagen, bevor es unkontrolliert aus mir herausplatzt. Als echte Freundin bin ich es ihr schuldig, ehrlich zu sein, auch wenn ich sie damit möglicherweise gegen mich aufbringe. Auch wenn es nur der Hauch einer Chance ist, dass ihr etwas bewusst werden könnte, so muss ich diese versuchen zu nutzen.
So fasse ich meinen ganzen Mut zusammen und sage zu ihr: "Ich muss gestehen, dass du dir meinen Traum verwirklicht hast, ein großzügiges Haus mit Gästehaus, nur die Ausstattung hätte ich etwas dezenter gehalten. Kannst du mir aber eines sagen? Warum dieser ganze Prunk?"
Auf einmal herrscht Stille. Ich spüre, dass meine Freundin mich anstarrt. Ich blicke zu ihr hinüber und zu meiner großen Überraschung kann ich sehen, dass sie für einen Moment ins Wanken gerät. Für einen Moment ist ihre Fassade instabil geworden, für einen Moment ist sie wieder mit sich selbst in Kontakt. In diesem Moment kann ich plötzlich meine Freundin von früher wieder spüren und mein Herz macht einen Satz vor Freude.
Doch der Augenblick währt nicht lange und meine Freundin hat sich wieder unter Kontrolle. Es fühlt sich an, als würde sie einen Reißverschluss nach oben ziehen, hinter dem sie langsam verschwindet, sich weiter und weiter entfernt, bis sie nicht mehr erreichbar ist. Es gibt nichts mehr, was mich hier noch halten könnte.
♦ ♦ ♦
"Haben oder Sein" ist der Titel eines Buches von Erich Fromm, das ich bereits vor 40 Jahren gelesen habe. Schon damals habe ich mich mit Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt und wo das wahre Glück zu finden ist. Ich hatte allerdings noch zu wenig Lebenserfahrung, um tatsächlich zu verstehen, wovon Erich Fromm spricht.
Vor drei Jahren habe ich eine Frau kennengelernt, die ihr Leben lang im puren Luxus gelebt hat. Sie war Führungskraft bei einem internationalen Konzern und hatte die ganze Welt gesehen. Dann kam Corona und in dieser Zeit hat sie festgestellt, dass ihr Job ihr immer mehr zur Zwangsjacke wurde und dass sie zwar alles besaß, aber innerlich leer war.
Sie hat daraufhin die Entscheidung getroffen, ihren Job zu kündigen, um mehr Raum und Zeit zu haben, um sich selbst zu finden. Sie hat damals zu mir gesagt: "Ich möchte jetzt vom Haben ins Sein kommen." Ein paar Monate später stand sie dann vor der Situation, dass sie möglicherweise alles verlieren könnte, wofür sie ein Leben lang gearbeitet hatte. Das hat mich damals an diesen Traum erinnert und an meine eigene Geschichte.
Auch in meinem Leben gab es eine Zeit, da hatte ich so viel Geld, dass ich nicht mehr wusste, wohin noch damit. Wir hatten ein tolles Haus mit einer Designerküche und Möbeln von Domicil, wir haben nur die teuerste Kleidung getragen und die exklusivsten Urlaube gemacht. Doch immer wieder habe ich gemerkt, dass ich innerlich taub und leer war. Und dann kam der Tag, an dem auf einmal alles weg war ... Alles was mir damals noch geblieben war, waren ein paar Möbel und mein Hund. Das ist nun 15 Jahre her.
Wir begegnen im Traum immer nur uns selbst und so war mir auch klar, dass diese Freundin aus früheren Zeiten mir ein Spiegel war. Mir war bewusst, dass ich die finanzielle Fülle in meinem Leben hatte, um die Erfahrung zu machen, dass ich das Glück, das ich suche, dort nicht finden werde. Beim Aufschreiben bekam ich dann folgende Botschaft:
"Sabine, das ist ein Geschenk, auch wenn du es so nicht immer sehen kannst. Diese Phase der finanziellen Knappheit ist wichtig für dich, denn es ist deine einzige Chance, dich auf das besinnen zu können, worum es wirklich geht. Materielle Fülle würde dich in einer Art ablenken, dass es dir nicht mehr möglich wäre, den Blick noch nach innen zu richten und deine Aufmerksamkeit bliebe im Außen gebunden.
Deine Aufgabe ist es aber, mit dir selbst und dem Reichtum in deinem Inneren in Kontakt zu kommen. Doch das ist, wie alles im Leben, ein Prozess und bedarf der Zeit und Übung. Erst wenn deine Beziehung zu dir selbst sich so gefestigt hat, dass sie zu einem stabilen Fundament geworden ist, wirst du in der Lage sein, auch mit der materiellen Fülle im Außen so umgehen zu können, dass du dich selbst darüber nicht mehr verlierst."
Alles zu verlieren hat mir damals den Boden unter den Füßen weggezogen und es hat gedauert, bis ich wieder auf die Beine kam, aber ich habe eine Erfahrung fürs Leben gemacht - egal was geschieht, es kann mir nichts passieren. Jede noch so schlimme Situation birgt immer auch ein Geschenk, nur braucht es seine Zeit, bis wir das erkennen können.
Ich lebe bis heute sehr bescheiden und habe nicht mehr viel. Irgendwann bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass alles meiner Aufmerksamkeit bedarf, was ich besitze und dass ich mich nicht mehr um Sachen kümmern möchte. Alles, was ich noch möchte, ist die Erfahrung meines wahren Selbst, der Reinen Seele, denn hier findet sich die Glückseligkeit, nach der die ganze Menschheit sucht.


