
Geschenk des Himmels
- Sabine Fischer
- 29. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Okt.
"Halt an, wo läufst du hin?
Der Himmel ist in dir.
Suchst du Gott anderswo,
du fehlst ihn für und für."
Angelus Silesius
Seit vier Wochen hält mich eine Erkältung fest im Griff. Obwohl ich meine Erschöpfung spüren konnte, habe ich die Zeichen beiseite geschoben und bin weiterhin zum Arbeiten gegangen. Doch dann ging nichts mehr. Ich konnte nur noch liegen und habe mich so schlapp gefühlt, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, wie ich bisher meinen Alltag bewältigt hatte.
Dieser Tage habe ich von einem
Soldaten geträumt, der mit letzter Kraft seinen schwer verletzten Kameraden zu einem verlassenen Haus trägt in der Hoffnung, dort Hilfe zu finden. Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Der Soldat bin ich, ebenso wie sein verletzter Kamerad und das verlassene Haus. Ich befinde mich im Kampf - gegen mich selbst - und habe mich völlig von meiner Mitte entfernt.
Ich lasse die letzten Wochen Revue passieren. Ich habe gearbeitet, bin für zwei Wochen nach Indien geflogen und habe direkt danach weitergearbeitet. Neben meiner täglichen spirituellen Praxis bin ich auch noch ehrenamtlich tätig. Eine Stimme in mir hat gefragt, ob eine Pause nach Indien nicht gut wäre, doch ich habe sie überhört.
Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus Indien wurde ich krank und wollte es nicht wahrhaben, denn ich bin ja für nächste Woche zu einem Retreat angemeldet. Mein innerer Antreiber hat die Peitsche geschwungen: "Los, mach weiter! Wer rastet, der rostet und du willst doch das Glück nicht verpassen!"
Die Erinnerung an einen Traum von vor Jahren steigt in mir auf und ich stelle fest, dass es mir immer noch passiert, wieder in dieselbe Falle zu tappen.
♦ ♦ ♦
Ich bin mit einer Gruppe von Wanderern in den Bergen unterwegs. Wir sind ein- und denselben Berg an diesem Tag schon mehrfach hinauf und wieder hinab gewandert. Nun neigt sich der Tag seinem Ende zu. Die anderen haben bereits den Feierabend eingeläutet, doch ich bin immer noch am Laufen - als Einzige ...
Irgendetwas in mir treibt mich vorwärts, es ist wie ein innerer Zwang. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, den Berg noch einmal ganz zu gehen. Aber nur zu gehen reicht mir nicht. Ich bin innerlich wie getrieben und jetzt jogge ich den Berg hinab, um damit zusätzlich noch etwas für meine Fitness zu tun.
Um möglichst effektiv zu sein, die Zeit optimal zu nutzen und mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, putze ich mir gleichzeitig noch die Zähne. Das würde ich heute Abend ja sowieso noch tun müssen und dann hätte ich es schon jetzt erledigt.
Während ich mir die Zähne schrubbend den Berg hinabjage, sehe ich in einiger Entfernung meine Kameraden auf einer Bank unter einem Baum im Schatten sitzen und entspannt die Aussicht genießen. Ich habe kein Verständnis für diesen Müßiggang, denn auch bei ihnen wären garantiert noch Kapazitäten frei, um noch etwas zu leisten. Gleichzeitig beschleicht mich aber immer wieder ein vages Gefühl von innerer Härte.
Vor mir läuft schon seit geraumer Zeit ein fremder Wanderer. Er stört mich und ich habe schon mehrmals angesetzt, ihn zu überholen, doch jedes Mal ändert er genau in diesem Moment seine Richtung, sodass ich nicht mehr an ihm vorbeikomme. Irgendwann bin ich derart verärgert, dass ich ihn anblaffe, ob er eigentlich nicht merken würde, dass ich vorbei wollte.
Ganz überrascht und verlegen springt er zur Seite und sucht entschuldigend nach Worten der Erklärung, dass er aus Villingen käme und sich verlaufen hätte. Es interessierte mich nicht, was er zu sagen hat. Ich will einfach nur an ihm vorbei und weiterlaufen, vorwärts kommen, auch wenn ich im Grunde gar kein richtiges Ziel habe ...
♦ ♦ ♦
Wir sind ein- und denselben Berg mehrfach hoch und wieder herunter gelaufen. Das heißt, wir waren zwar den ganzen Tag unterwegs, aber ohne vorwärts zu kommen. Das fühlt sich an, wie im Kreis zu laufen. Und auch als die anderen sich längst ausruhen, laufe ich immer noch weiter, angepeitscht von meinem inneren Antreiber: "Du musst machen, machen, machen!" Am Ende wird mir sogar selbst bewusst, dass ich gar kein konkretes Ziel habe ...
Villingen, die Stätte meiner Kindheit. Hier war ich glücklich. Ich sehe mich immer noch unbeschwert und fröhlich im Garten meiner Großeltern spielen und springen. Ich habe die Linde meines Großvaters vor Augen, höre ihr Rauschen. Es ist Sonntagmorgen, die Sonne scheint und der Garten leuchtet in allen Farben. In meinen Ohren klingen noch die Kirchenglocken von Sankt Konrad, der Klang des Glücks.
Mir kommt ein Satz aus der Bibel in den Sinn: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen". Kinder sind unbeschwert und leben im Augenblick. Sie machen sich keine Gedanken über die Vergangenheit oder Sorgen um die Zukunft. Sie sind Entdecker, können noch staunen und wahre Freude empfinden.
Der fremde Wanderer kommt aus Villingen. Er läuft direkt vor mir und hat sich verlaufen. Auf französisch heißt es "je me suis perdu", wörtlich übersetzt "ich habe mich verloren", habe die Verbindung zu meiner Mitte verloren. Das Glück läuft direkt vor mir, es stellt sich mir sogar in den Weg, doch ich kann es nicht erkennen, weil ich den Tunnelblick habe. An diesem Punkt wird mir bewusst, dass es jetzt nur noch eines zu tun gibt - nämlich anzuhalten.
Meine Intuition spricht immer zu mir, doch oft ist es nicht das, was ich gerne hören würde. Da ihre Stimme sehr leise ist, manchmal nur ein Bauchgefühl, kann man sie leicht beiseite schieben. Und wieder eimal habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich gut daran tue, wenn ich diese Stimme nicht überhöre, denn die Intuition ist die Stimme meiner Seele, der Quelle der Weisheit. Sie kennt den Weg und wird mich führen, wenn ich sie lasse.
Den Retreat habe ich abgesagt. Ein bissschen wehmütig bin ich schon, aber ich weiß, dass es richtig ist und fühle mich wie befreit. Ich kann spüren, dass die Ruhe schon in mir ist und ich langsam wieder in Kontakt mit ihr komme. Und ich habe nach Monaten wieder angefangen zu stricken.


