
Unser wahres Wesen
- Sabine Fischer
- vor 1 Tag
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 15 Stunden
"Wir sind keine menschlichen Wesen,
die eine spirituelle Erfahrung machen,
wir sind spirituelle Wesen, die
eine menschliche Erfahrung machen."
Pierre Teilhard de Chardin
Meine Großmutter liegt im Sterben. Als sie fühlt, dass ihre letzte Stunde gekommen ist, lässt sie nach mir rufen. Ich hatte während des Studiums eine Zeit lang bei ihr gelebt und nun will sie mich noch einmal sehen.
Beim Betreten ihres Zimmers bin ich ganz überrascht, sie am Boden liegen zu sehen. Sie ist gebettet in ein Lager aus Zweigen und Blättern. Sie scheint es bequem zu haben und sich wohl und geborgen zu fühlen.
Ich trete an ihr Bett und setzte mich zu ihr. Ohne mich anzusehen, fängt sie an zu sprechen. Auf den ersten Blick kann ich überhaupt nicht ausmachen, dass ihr Leben seinem Ende entgegen geht. Sie ist wie immer, sie redet und redet und redet.
Nicht einmal jetzt, im Angesicht ihres Todes, lässt sie sich irgendetwas anmerken. Sie wirkt genauso betriebsam wie ich sie ihr Leben lang gekannt hatte.
Immer war sie auf Achse gewesen, stets musste sie etwas zu tun gehabt haben, niemals hatte sie Schwäche gezeigt und durch ihr ständiges Erzählen alle Gefühle förmlich "weggeredet".
Zunächst ist sie noch wie aufgekratzt, doch dann beginnt ihr Redeschwall langsam zu versiegen. Ihre Augen werden immer ruhiger und ihre Aufmerksamkeit scheint sich allmählich nach innen zu richten.
Ich nehme ihre Hand und in diesem Augenblick kann ich alles fühlen. Ich spüre die Zartheit ihrer Seele, ihr schweres Schicksal, ihren starken Willen. Ich sehe ihr Leben in Bildern - Bomben, Krieg, Hunger, Heimatlosigkeit. Sie hatte nicht gearbeitet, sie hatte geschuftet.
Da weiß ich, dass sie im Laufe ihres Lebens diesen Schutzwall aus Worten um sich herum aufbauen musste, um ihr zartes Inneres zu schützen. Sie wäre an den Schlägen des Lebens zerbrochen, wenn sie nicht genau aufgepasst hätte, dass durch diese Schutzmauer nichts durchgeht - weder hinein, noch hinaus.
Als ich ihre Hand ergreife, kann ich auf einmal die ganze Wärme und all die Liebe fühlen, die sich hinter dieser Mauer verbergen und ich kann sehen, dass diese Liebe ihr ganzes Leben lang ihren Kindern und ihrer Familie gegolten hatte.
Ich bin zutiefst ergriffen und bewegt. In diesem Augenblick, als ich in der Stunde ihres Todes ihre Hand halte, kann ich meine Großmutter zum ersten Mal richtig spüren.
Es ist wie eine Offenbarung, diesen Zugang zu ihrem Inneren zu bekommen. Doch mir ist auch bewusst, dass diese unausgesprochenen Worte ihre Abschiedsworte sind.
Ein Schmerz durchfährt mich und ich frage sie, ob es nun soweit wäre. Ohne mich anzusehen, nickt sie mit dem Kopf. Ich fragte sie, ob sie alleine sein wollte, wenn sie jetzt gleich gehen würde. Sie nickt noch einmal.
Da weiß ich, dass alles gesagt ist und auch, dass sie in diesem Moment im Reinen ist mit sich selbst.
Ich streichle noch einmal ihre Hand, dann lege ich sie behutsam neben ihr ab und lasse sie los. Langsam stehe ich auf und verlasse leise den Raum.
In diesem Moment verliere ich meine Fassung und die Tränen brechen aus mir heraus wie ein Sturzbach. Ich weine und weine und weine ...
♦ ♦ ♦
Der Schlüssel zum Verständnis dieses Traums ist das Lager aus Blättern und Zweigen. Meine Großmutter liegt am Boden und ist eingebettet in die Natur. Sie ist auf dem Weg nach Hause, bereit, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen war.
Längst ist bekannt, welche Heilkraft die Natur hat. Nirgendwo kann man besser zur Ruhe kommen und zu sich selbst finden. Und so wird es auch meiner Großmutter möglich, am Ende ihres Lebens ihre Aufmerksamkeit nach innen zu richten. Heilung geschieht und sie kann jetzt mit sich selbst in Kontakt und ins Reine kommen.
Natur hat aber auch noch eine Bedeutung im übertragenen Sinne. Wenn man sich fragt, welcher Natur eine Sache ist, stellt man sich die Frage nach deren Wesen und Beschaffenheit. Genau darum geht es in diesem Traum. Es geht um die wahre Natur meiner Großmutter, um ihr wahres Wesen.
Als ich ihre Hand halte, ist es auf einmal, als würde ich so die Mauer umgehen, von der sie ihr Leben lang umgeben war. Mit einem Mal wird der Blick frei auf das, was dahinterliegt.
Was ich da zu sehen bekomme, berührt mich zutiefst. Ich fühle Wärme, Zuneigung, Verbundenheit, Zugewandtsein - ich spüre Liebe.
Ich sehe ihr ganzes Schicksal vor mir - Krieg, Bombenangriffe, Hunger, Todesangst, Überlebenskampf und die allgegenwärtige Sorge um ihre Kinder. Sie musste nicht nur ihr eigenes Überleben sichern, sondern auch das ihrer Kinder. Diese Erlebnisse haben ihr ganzes weiteres Leben geprägt.
In diesem Augenblick hat mich unendliches Mitgefühl mit ihr erfgriffen. Ein Mitgefühl, das sie für sich selbst niemals hatte aufbringen können, das möglicherweise kaum ein Mensch für sich selbst aufbringen kann.
Dieses Mitgefühl, das auf einmal auch in mir die Liebe in den Tiefen berührt, hat die Schleusen für meinen angestauten Tränenstrom geöffnet.
Meine Großmutter bin ich selbst. Träume lassen uns tief in unser Unterbewusstsein blicken und zeigen uns, manchmal auch in drastischen Bildern, was dort im Verborgenen liegt und gesehen werden möchte, damit es in Heilung gehen kann.
Liebe ist das wahre Wesen meiner Großmutter und da weiß ich, dass Liebe auch mein wahres Wesen ist, dass Liebe unser aller wahres Wesen ist. Egal wer oder was wir sind, egal, was wir hier tun oder getan haben und wie wir uns auf der Bühne des Lebens präsentieren - Liebe ist unser wahres Wesen.