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Gott in der Schneeflocke

  • Autorenbild: Sabine Fischer
    Sabine Fischer
  • 10. März
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Okt.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.“

Antoine de Saint-Éxupery


Es ist Frühsommer. Ich befinde mich in Begleitung meines Nachbarn in einem Hotelzimmer im Deggenhausertal. Ich liebe dieses Tal, denn es ist über seine Grenzen hinaus bekannt für seine herrliche Landschaft und seine grandiosen Aussichten. Doch trotz der hellen Jahreszeit ist es draußen seltsam düster.


Die Anwesenheit meines Nachbarn in dieser eher intimen Umgebung wundert mich etwas, denn wir kennen uns nur flüchtig. Wenn er aber nun aber schonmal hier ist, will ich die Gelegenheit nutzen und herausfinden, inwieweit mein Gedankengut und meine Weltsicht ihm zugänglich sind.


Mein Plan ist, einige Themen anzuschneiden, die in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen, allesamt die Bereiche Spiritualität und Glauben betreffend. Bereiche, die von den meisten Menschen nur mitleidig belächelt werden. Anhand seiner Reaktion würde ich dann entscheiden, ob ein näherer Kontakt mit ihm sich für mich lohnen würde oder nicht.


Ich spreche von Wundern und dass es sogar möglich wäre, dass es jetzt, mitten im Sommer, anfangen könnte zu schneien. Ich spreche von etwas, an das ich selbst nicht wirklich glaube, woran ich aber so gerne glauben würde, mein Verstand mir jedoch einen Strich durch die Rechnung macht.


In diesem Moment verdunkelt sich der Himmel. Ein starker Wind zieht auf und unvermittelt klatscht der Regen an die Fensterscheiben. Es ist ein magischer Moment. In mir vibriert alles und plötzlich fühle ich, dass hier etwas Ungewöhnliches im Gange ist. Der Regen ist wie ein Bote, der das Erscheinen von etwas Bedeutendem ankündigt. 


Um noch näher mit dem Geschehen in Verbindung zu kommen, öffne ich ein Fenster und sehe hinaus. Eine kühle Brise weht mir entgegen und dann kann ich erkennen, wie die Regentropfen immer mehr zu Schneeflocken werden. Mein Blick ist wie gebannt von diesem Vorgang und ich kann kaum glauben, was sich vor meinen Augen abspielt.


Im nächsten Augenblick nehme ich eine überdimensional große Schneeflocke wahr, die langsam aber beständig nach unten schwebt. Noch niemals zuvor hat mich etwas so angezogen und fasziniert wie diese Schneeflocke. Es ist, als würde sie zu mir sprechen: „Schau her, sieh mich an!“


Sie hat eine Ausstrahlung, der man sich unmöglich entziehen kann. Sie ist von einer mit Worten nicht zu benennenden Erhabenheit, Reinheit und Klarheit. Sie strahlt eine so vollkommene Ruhe und Größe aus, dass ich zum ersten Mal eine Ahnung davon bekomme, wie wahre Demut sich anfühlt.


Die einzelnen Kristalle sind deutlich zu erkennen. Ich kann sehen, dass sie alle miteinander verbunden sind und dass in dieser Verbindung eine perfekte Ordnung herrscht. Doch das ist noch nicht alles, denn in dieser Ordnung zeigt sich ein fantastisches Muster von unbeschreiblicher Schönheit. 


Ich bin ganz versunken in den Anblick dieser Schneeflocke, wie sie majestätisch an mir vorbeigleitet und auf einmal trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag - dies ist das Werk Gottes, in dieser Schneeflocke offenbart er mir seine ganze Herrlichkeit. Ich bin zutiefst ergriffen.


Auf einmal bin ich ganz aufgeregt. Diese Schneeflocke ist der Beweis für die Existenz Gottes und ich muss sie augenblicklich meinem Nachbarn zeigen. Er muss sie unbedingt gesehen haben, bevor sie wieder weg ist! Doch er lässt sich Zeit und als er beim Fenster ankommt, ist von der Schneeflocke nichts mehr zu erblicken.


Ich bin enttäuscht, dass er sie nicht mehr gesehen hat, denn nun weiß ich nicht, für wie glaubwürdig er mich halten würde. Ich hätte ihn außerdem gebraucht als Zeugen, dass er mir bestätigt, dass dieses Erlebnis tatsächlich wahr ist und nicht nur ein bildgewaltiger Auswuchs meiner Fantasie.


Aber da ist ja immer noch der Schneefall mitten im Sommer, der stille Ausklang einer grandiosen Erfahrung, der mir leise zuflüstert: „Vertrau‘ auf deine Wahrnehmung!“

 

 

♦ ♦ ♦

 

 

Zunächst frage ich mich, wer ist dieser Nachbar? Er ist mir fremd und doch vertraut. Ich kenne ihn kaum, aber wir befinden uns im selben Raum. Welche Eigenschaften hat er? Er weiß Bescheid, er kennt sich aus, ihm kann man nichts vormachen und er glaubt nur das, was er mit eigenen Augen sehen kann. Dieser Nachbar ist mein Verstand!


Ich befinde mich in einem Hotel. Wenn man im Hotel wohnt, ist man unterwegs und weg von Zuhause. Doch wo ist mein Zuhause? Was wir landläufig als unser Zuhause bezeichnen ist lediglich ein Ort in unserer äußeren vermeintlichen Realität. Ich jedoch suche schon seit so vielen Jahren nach meinem inneren Zuhause, nach Anbindung und Rückverbindung.


Das Hotel befindet sich im Deggenhausertal im nördlichen Bodenseekreis. Unter den Einheimischen hat dieser herrliche Landschaftsstrich einen Beinamen – „Tal der Liebe“ - und da verstehe ich das Bild. Nur wenn ich in der Liebe bin, kann ich wirklich sehen, nur wenn ich in der Liebe bin, kann ich mit dem Herzen sehen und nicht mehr nur mit dem Verstand.


Was sich vor meinen Augen auftut, gleicht einem Wunder. Für einen Moment wird mir ein Blick auf die wahre Natur des Universums geschenkt. Doch es ist nur ein Wunder für den Verstand, für das Herz ist es die Wahrheit, eine längst vergessene Wahrheit, die als tiefe Sehnsucht geblieben ist. Mir wird die Gnade zuteil, dass Gott sich mir offenbart - in einer Schneeflocke.


Schnee ist Winter und Winter ist weiß. Winter ist der Inbegriff von Reinheit und Stille. Das Beeindruckendste an dieser Schneeflocke ist die Ruhe, die sie ausstrahlt, eine zutiefst lebendige Ruhe. Es ist als würde sie zu mir sprechen und sagen: "Sieh her! Nimm mich wahr! Es ist alles in Ordnung und es ist wunderbar."


Am Ende ist die Schneeflocke für mein Auge nicht mehr sichtbar. Doch sie ist nicht verschwunden. Sie ist für einen Augenblick aus diesem Meer von Millionen von Schneeflocken hervorgetreten, um sich danach wieder dorthin zurückzubegeben. Und dann wird mir etwas bewusst ...


Wenn Gott in einer einzigen Schneeflocke ist, dann ist er in jeder Schneeflocke - und auch in allen anderen Dingen. Gott ist überall. Der Geist Gottes durchdringt alles. Seine Herrlichkeit ist jetzt und allerorts und immer.

 
 
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